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Gideon und die unendliche Liebe


Gideon schaute in den Himmel und träumte dabei vor sich hin. Die Unendlichkeit des Sternenhimmels verzückte ihn und er verglich sie mit seiner nicht enden wollenden Sehnsucht und Zuneigung zu seiner Herzallerliebsten.

„Alles was existiert ist begrenzt in seinem Umfang. Dies gilt sogar für unser Universum. Jede Ausdehnung hat einen Anfang und ein Ende.”, hörte Gideon plötzlich aus dem Sternenhimmel zu ihm hinunterrufen.

„Du meinst unser Universum ist nicht unendlich?”, rief Gideon zurück.

„Richtig”, sagte die Stimme immer noch aus dem Nichts kommend aber nun deutlich leiser und näher, „ Nehmen wir an, ein Raum wäre einhundert Meter lang. Wenn wir immer kleinere Schritte machen oder immer langsamer vorangehen, oder einfach aufhören zu laufen — dann werden wir nie das Ende des Raumes erreichen. Dennoch ist der Raum nicht unendlich und nach wie vor begrenzt. Wenn ich eine Strecke von 100 Metern laufen soll und nach 99 Metern stehenbleibe und den nächsten Schritt verweigere, dann werde ich die hundert Meter nie zu Ende laufen. Dennoch sind die hundert Meter nicht unendlich sondern genau Einhundert Meter lang.”

„OK — aber was ist, wenn ich keine kleineren Schritte mache, nicht immer langsamer werde und auch nie stehenbleibe? Dann müsste ich doch theoretisch irgendwann das Ende des Raumes erreichen.”

„Theoretisch ja — allerdings hat unser Universum die Eigenschaft sich auszudehnen. Und zwar mit Lichtgeschwindigkeit. Selbst wenn du also so schnell wie das Licht laufen könntest, kämst du nicht an das Ende des Universums, da dieses Ende genauso schnell wie du vor dir wegläuft.”

„Und wenn ich.. ich bin übrigens Gideon.. wenn also ich schneller wäre als Lichtgeschwindigkeit?”

„Schneller als Licht geht nicht — Gideon. Wenn es schneller ginge, dann wäre ja auch das Licht schneller.”

„Aber wenn es schon keine Unendlichkeit im Raum gibt, dann aber doch wenigstens in der Zeit?”, wollte Gideon bestätigt haben.

„Ich muss dich enttäuschen. Auch die Zeit ist eine Form der Ausdehnung und hat somit Anfang und Ende. Das vorläufige Ende der Zeit ist das Jetzt. Allerdings schiebt die Zeit dieses Jetzt ständig vor sich her. Sogesehen entsteht der Eindruck, dass die Zeit unendlich wäre — allerdings wissen wir nicht ob die Zeit nicht irgendwann in ferner Zukunft aus welchen Gründen auch immer doch einfach stehen bleibt und dem Jetzt dann die Zukunft ausgeht.”

„Und die Liebe?”, wollte Gideon wissen, „Ist wenigstens die Liebe unendlich?”

„Das kommt darauf an, welche Liebe du jetzt meinst.”

„Naja, mal angenommen, ich habe mich verliebt. Da kann ich weder bezüglich des Umfanges meiner Gefühle, der Bereitschaft meiner Hingabe, geschweige denn bezüglich der Dauer irgendwo ein Ende sehen.”

„Gideon — das ist schön, aber auch hier muss dir bewußt sein, dass all das Grenzen im Rahmen deiner Möglichkeiten hat und spätestens zeitgleich mit deinem Leben enden wird.”

„Das ist Schade! Es leuchtet mir zwar ein, aber es gefällt mir nicht..”
Gideon war sichtlich betrübt und fast schon verärgert.
Trotzig fragte er :”Also gibt es einen Namen für etwas was es nicht gibt?”,

„Für euch Menschen müßte es eigentlich Raum—Zeit—Kontinuum bedingtes Unendlichkeitsempfinden” heißen, aber — seien wir doch ehrlich — das klingt doch furchtbar. Unendlichkeit hingegen klingt einfach wundervoll. Das klingt nach Ewigkeit, nach für immer, nach Vertrauen in die Zukunft.”

„Es klingt aber toller als es in Wirklichkeit ist. Es hört sich so an als wäre es für immer obwohl das ja überhaupt nicht stimmt.”, sagte Gideon enttäuscht.

„Es gibt durchaus eine Unendlichkeit die deiner Vorstellung gerecht wird.
Erinnerst du dich, was ich geantwortet habe, als du mich fragtest ob die Liebe unendlich ist?”

„Du sagtest, dass sie spätestens mit meinem Leben endet.”

„Nein — das sagte ich nur bezüglich deiner Liebesgefühle. Zuvor sagte ich aber, es kommt darauf an, welche Liebe du meinst.”

„Es gibt also eine andere Liebe, als die, die ich fühle? Eine unendliche, größere und tiefere Liebe als ich zu fühlen in der Lage bin?”

„Die gibt es durchaus”, sagt die Liebe, „aber — auch wenn du mich nicht sehen sondern nur fühlen kannst, so bin ich doch weit mehr als nur ein Gefühl. Und weil ich unendlich bin wirst du mich nie in meinem gesamten Umfang fühlen können. Das bedeutet aber auch — und ich hoffe das tröstet dich — dass Du mich nie verlieren wirst, denn wenn etwas unendlich ist, dann ist es auch überall.”

© Gerhard Feil   https://www.gegge.de